Meldestelle zu den IV-Gutachten: Zwischenanalyse

Willkürliche Gutachten: Mehr als Einzelfälle

Simulationsvorwürfe, 20-Minuten-Gespräche oder gar Beleidigungen – die Meldestelle von Inclusion Handicap zu den IV-Gutachten hat viele Missstände aufgedeckt. Über 250 Meldungen von Versicherten gingen ein.  In vielen Fällen kann nicht von einer fairen Abklärung gesprochen werden. Der politische Dachverband der Behindertenorganisationen publiziert erste Resultate der Meldestelle, die nach wie vor aktiv bleibt.

Am 28. Februar dieses Jahres hat Inclusion Handicap eine Meldestelle eingerichtet: Opfer der Willkür bei den IV-Gutachten können Missbräuche durch die Gutachterinnen und Gutachter melden. 256 Versicherte machten nach sieben Monaten (Stichtag 28. September) eine Meldung, hinzu kamen 15 Meldungen durch Rechtsvertreterinnen sowie 33 von behandelnden Ärzten. Die Meldestelle ist als Online-Umfrage konzipiert, wo nach diversen Einschätzungen und Geschehnissen gefragt wurde. Verschiedene Medienberichte und die Erfahrung aus der Rechtsberatung von Inclusion Handicap zeigten auf, dass einige Gutachter die Arbeitsfähigkeit systematisch zu hoch einschätzen und dafür von den IV-Stellen immer wieder mit lukrativen Aufträgen belohnt werden.

53 Meldungen gingen ein, wonach die Gutachter die Versicherten zu 100 Prozent arbeitsfähig einschätzten, die behandelnden Ärztinnen aber eine Arbeitsfähigkeit von 0 Prozent attestierten. Diese Fälle zeigen die klare Tendenz der harten Gangart in den Gutachten auf.

20-Minuten-Gespräche entscheiden über Anrecht auf Renten

Ebenfalls besorgniserregend: 10 Versicherte melden, dass das Abklärungsgespräch nicht mehr als 20 Minuten dauerte. Es kommt also vor, dass ein 15-minütiges Gespräch dafür ausschlaggebend ist, ob jemand eine IV-Rente bekommt oder nicht, unabhängig davon, zu welchem Schluss der behandelnde Arzt gekommen ist. Solche Zustände sind für Versicherte schwer zu ertragen. Denn die IV-Stellen und die Gerichte folgen praktisch ausschliesslich den Gutachten. 20 Mal meldeten Ärztinnen und Ärzte, dass die Gutachten nicht dem medizinischen Standard entsprechen. Die überwiegende Mehrheit der Versicherten berichtet, dass die Diagnosen nicht oder nur teilweise übereinstimmen.

Mehr als die Hälfte der Begutachteten gab an, dass die Gutachtergespräche in schlechtem Klima stattfanden. Teilweise ist es gar zu Beleidigungen gekommen. Mehrmals meldeten die Versicherten, dass ihnen die Gutachter Simulationsvorwürfe unterstellen wollten. Oder die Gutachter wollten gar nicht wissen, welche Anforderungen ihr Beruf voraussetzt – eigentlich das A und O, wenn jemand die Arbeitsfähigkeit abklären will.

Qualität ist gefragt – Fälle müssen neu aufgerollt werden

Vorerst bleibt die Meldestelle von Inclusion Handicap aktiv. Der Dachverband der Behindertenorganisationen stellt folgende Forderungen:

  1. Die Behörden müssen die Qualität der Gutachten in jedem Fall sicherstellen. Fehlbare Gutachter gehören aus dem Verkehr gezogen.
  2. Fälle, bei denen Versicherte keine oder zu wenig IV-Leistungen erhalten haben, weil die Qualität der Gutachten nachweislich schlecht war, müssen neu aufgerollt werden.
  3. Alle Gutachten müssen nach dem Zufallsprinzip vergeben werden.
  4. Eine Drittperson soll beim Gutachtergespräch dabei sein. Die allermeisten Versicherten, die sich bei der Meldestelle gemeldet haben, stehen dem Vorschlag positiv gegenüber.

Mit der IV-Weiterentwicklung, die ab 2022 in Kraft treten soll, sind erste Verbesserungen geplant. So sind z.B. die Gutachtergespräche aufzunehmen. Inclusion Handicap ist gespannt, welche Erkenntnisse die externe Untersuchung zeigt, welche Bundesrat Alain Berset in Auftrag gegeben hat.

Millionenbeträge für Gefälligkeitsgutachten

Die Bedeutung der Gutachten ist gross: IV-Stellen oder Gerichte stützen ihre Entscheide praktisch immer auf die Gutachten ab; de facto sind diese entscheidend, wie hoch die Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person eingeschätzt wird. Der Verdacht erhärtet sich, dass einige Gutachter mit lukrativen Aufträgen belohnt werden, wenn sie die Arbeitsunfähigkeit tief einschätzen. Die Qualität der Gutachter ist von existenzieller Bedeutung, aber die Meldestelle zeigt, dass diese in zu vielen Fällen nicht gegeben ist. Deshalb wird Inclusion Handicap weiterhin für eine faire Praxis kämpfen.

Weitere Informationen

Auskunft

031 370 08 30 / info@inclusion-handicap.ch

Inclusion Handicap ist die vereinte Stimme der rund 1,7 Mio. Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. Der politische Dachverband der Behindertenorganisationen setzt sich für die Inklusion und die Respektierung der Rechte und Würde aller Menschen mit Behinderungen ein. Inclusion Handicap vereint 20 gesamt-schweizerische und sprachregionale Behindertenverbände, ist die Interessenvertretung für Menschen mit Behinderung und bietet ihnen Rechtsberatung an. Die politischen Positionen werden in Zusammenarbeit mit den 20 Mitgliederorganisationen erarbeitet.

Die Mitgliederorganisationen von Inclusion Handicap

Asrimm | autismusschweiz | FRAGILE Suisse | GELIKO (Schw. Gesundheitsligen-Konferenz) |
inclusione andicap ticino | insieme Schweiz | PluSport | pro audito Schweiz | Procap | Pro Infirmis | Pro Mente Sana | Schw. Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) | Schw. Gehörlosenbund (SGB) | Schw. Multiple Sklerose Gesellschaft | Schweizer Paraplegiker-Vereinigung | Schw. Stiftung für das cerebral gelähmte Kind | Schw. Zentralverein für das Blindenwesen (SZBlind) |
Sonos – Schw. Hörbehindertenverband | Verband Dyslexie Schweiz | Vereinigung Cerebral Schweiz