Recht auf autonomes Reisen von Menschen mit Sehbehinderung

St. Gallen, 25.2.22. Das Urteil des Bundesgerichts betreffend die neuen Bombardier Doppelstockzüge (Dosto) setzt klare Massstäbe für die Zugänglichkeit des ÖV für alle Menschen mit Behinderungen, auch von Menschen mit Sehbehinderung. Das Urteil bestätigt die Forderungen von Inclusion Handicap und des schweizerischen Sehbehindertenwesens, wonach die Sicherstellung autonomen Reisens höher zu gewichten ist als die Einhaltung der technischen Normen.

Das Bundesgericht anerkennt in seinem Urteil betreffend die neuen Doppelstockzüge der SBB, dass Menschen mit Sehbehinderung und anderen Behinderungen ein verfassungsmässiges Recht auf selbstbestimmte Mobilität haben. Die autonome Benützung der Verkehrsmittel sei höher zu gewichten als die Einhaltung der technischen Normen. Das bedeutet: selbst wenn die Umsetzung eines Zuges den nationalen und europäischen Normen entspricht, muss jeweils geprüft werden, ob mit der Einhaltung dieser Normen die autonome Benützung des Zuges zum Beispiel für Menschen mit Sehbehinderung möglich ist.

Der Dosto-Zug war 2017 vom BAV, das für die Zulassung zuständig ist, als rechtskonform eingestuft worden. Das Bundesverwaltungsgericht sah es auch so. Inclusion Handicap, mit Unterstützung des Sehbehindertenwesens und anderer Behinderten-Organisationen, hatte dagegen beim Bundesgericht neun Beschwerdepunkte eingereicht. Das Urteil des Bundesgerichts führt nun erfreulicherweise dazu, dass sich die Transportunternehmen und insbesondere das BAV nicht mit der Einhaltung der einzelnen technischen Normen begnügen dürfen. Sie müssen auch gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen die Züge tatsächlich autonom gebrauchen können. «Ob nach diesem Urteil zudem auch noch Anpassungen der technischen Normen nötig sind, z.B. in Bezug auf Rampenneigung, Handläufe und Beleuchtung, werden wir prüfen», so Maya Graf, Co-Präsidentin von Inclusion Handicap und Ständerätin BL.

Zwar werden die Beschwerdepunkte des Sehbehindertenwesens, unter anderem zum Einbau eines akustischen Türfindesignals, zur Verlängerung des Handlaufs bei der Treppe und zur Beleuchtung in den WC nicht explizit gutgeheissen. Dennoch stärkt das Urteil die Position des schweizerischen Sehbehindertenwesens in Zukunft.

Aus Sicht des Sehbehindertenwesens, ist insbesondere ohne das akustische Türfindesignal die autonome Benützung eines Zuges für Menschen mit einer Sehbehinderung oder Blindheit nicht möglich. "Wenn ich die Tür des Zuges nicht ohne fremde Hilfe finden kann, ist der autonome Einstieg nicht gewährleistet", so Jan Rhyner, Interessenvertreter des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen SZBLIND.

Forderungen, welche die nationale Begleitgruppe von Menschen mit einer Sehbehinderung im Öffentlichen Verkehr (BG SöV) und das Sehbehindertenwesen in der Vergangenheit gestellt haben, bekommen so mehr Gewicht und in künftigen Verhandlungen werden die Verhandlungspartner die Forderungen nach autonomem Reisen stärker gewichten müssen.

"Die Normen sind jeweils Minimalstandards, an die sich alle halten müssen. Es ist aber nicht verboten, darüber hinaus zu gehen", sagt Jan Rhyner vom SZBLIND. Zumal die SBB Taster von Herstellern beziehen, die das akustische Türfindesignal bereits eingebaut hätten. In diesen Fällen fehle lediglich die Verkabelung, so Rhyner weiter. Das Türfindesignal zu verlangen sei somit nicht unverhältnismässig.

Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, der Schweizerische Blindenbund SBb, die Schweizerische Caritasaktion der Blinden CAB und der SZBLIND werden sich weiter für die Rechte sehbehinderter und blinder Menschen im öffentlichen Verkehr einsetzen.

Kontakt:              Nina Hug, Co-Leiterin Marketing und Kommunikation SZBLIND,

                               Tel.: 078 843 44 93;  hug@szblind.ch