Protest der Behindertenorganisationen gegen IV-Verordnung

Beim Bundesgericht wird demnächst Fall behandelt, welcher von grösster Tragweite für alle Personen in der Schweiz ist, die Anspruch auf IV-Unterstützung stellen. Im Kern geht es darum, welches hypothetisch erzielbare Einkommen (sog. Invalideneinkommen) die IV einer Person mit Behinderung anrechnen darf oder anders gesagt: Wieviel kann eine Person trotz gesundheitlicher Einschränkung noch verdienen?

Bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades geht die bisherige Praxis davon aus, dass das sog. Invalideneinkommen anhand des Medianlohnes der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) zu ermitteln ist. Diese Erhebung wird vorwiegend anhand der Löhne von Personen ohne gesundheitliche Einschränkungen vom Bundesamt für Statistik erstellt. Im Jahre 2021 konnte durch eine Studie des Büros BASS mit einem Rechtsgutachten von Gächter/Egli/ Meier/Filippo erstmals nachgewiesen werden, was Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen tatsächlich verdienen können. Dabei wurde eindeutig festgestellt, dass erwerbstätige IV-Rentnerinnen und Rentner rund 14 - 17% weniger verdienen als die auf der LSE basierenden Medianlöhne.

Mit anderen Worten: In den vergangenen Jahren wurden regelmässig Löhne angenommen, welche eine gesundheitlich beeinträchtigte Person unmöglich erzielen kann. Dies hat zu entsprechend tiefen Invaliditätsgraden und zu Leistungsverweigerungen geführt. Eine unhaltbare Praxis, wie 20 verschiedene Behinderten-Organisationen Gewerkschaften im Hinblick auf die baldige öffentliche Urteilsberatung des Bundesgerichts mit Nachdruck festhalten. Sie fordern eine Änderung der jetzigen Praxis. Denn diese führt nicht nur zur Verweigerung von existenzsichernden Rentenleistungen, sondern schliesst Menschen mit Beeinträchtigungen auch von beruflichen Massnahmen aus, da auch hierfür ein Mindest-IV-Grad von 20% vorausgesetzt wird. Damit verhindert die bisherige Praxis auch ein wichtiges Ziel der IV: Die Eingliederung von Menschen mit Behinderung.

Die unterzeichnenden Organisationen sind der Auffassung, dass die bisherige Praxis des Bundesgerichts, aber auch die per 1.1.2022 in Kraft tretende Verordnung über die Invalidenversicherung, welche die Medianlöhne als massgebend bezeichnet, aufgrund der neuen Erkenntnisse nicht haltbar sind. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Vorgehensweise mit der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sind.

Gemeinsame_Erklaerung.pdf