Autonom dank Technik und Digitalisierung?
Das Leben blinder und sehbehinderter Menschen wird heute durch viele digitale Hilfsmittel erleichtert. Was waren die Meilensteine ihrer Entwicklung, wo gab es Widerstände – und worauf können Sie sich in Zukunft freuen? Eine Spurensuche mit verschiedenen Expert:innen und Antworten auf die Frage, was künstliche Intelligenz leisten kann.
Für unseren Beitrag haben wir die künstliche Intelligenz «Midjourney» gefragt: Wie stellt sie sich die Hilfsmittel der Zukunft vor? Abbildung: codeplay.ch / generiert mit Midjourney
6 Uhr morgens. Der Wecker in Mathildas Smartphone klingelt. Im Halbschlaf murmelt sie: «Hey Siri, lies mir neue WhatsApp-Nachrichten vor!» «Sie haben keine neuen Nachrichten», antwortet das Handy. «Spiele Space Oddity auf Spotify». Zu den Klängen von David Bowie zieht sich Mathilda an. Einmal muss sie den Song kurz unterbrechen, um «SeeingAI» zu starten: Sie ist nicht sicher, ob sie den roten oder den weissen Pullover erwischt hat. «Rot», antwortet die App. In der Küche erwartet sie schon ihre Kaffeemaschine, die ihr einen guten Morgen wünscht und sie informiert, dass die Kaffeebohnen nachgefüllt werden müssen. Mit dem heissen Kaffee setzt sich Mathilda an ihren Küchentisch, öffnet im E-Kiosk den «Tagesanzeiger» und hört sich die News des Tages an. Bevor sie zur Arbeit aufbricht, ruft sie ‘Alexa, lösche alle Lichter’, und schliesst die Tür hinter sich ab.
Was fast wie ein Science-Fiction-Film klingt, ist heute schon für viele Realität: Technische Hilfsmittel können das Leben in unzähligen Bereichen des Alltags erleichtern. Für die Inklusion blinder und sehbehinderter Menschen eröffnet das weitreichende Möglichkeiten. Eine Entwicklung, die bis vor kurzem noch kaum vorstellbar war – obwohl die Geschichte technischer Hilfsmittel weit zurückgeht.
Braille-Schrift begründete technischen Fortschritt
Für Silvia Brüllhardt, Leiterin des Schweizerischen Blindenmuseums in Zollikofen, beginnt die moderne Geschichte technischer Hilfsmittel kurz nach der Erfindung der Braille-Schrift. Louis Braille hat sie Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt, und kurze Zeit später kamen Ideen für die ersten Schreibgeräte auf. «Dank der Braille-Schrift konnten sich blinde Menschen erstmals autonom bilden. So wurde technische Unterstützung rasch entscheidend: Damit die Schrift nicht mehr von Hand, seitenverkehrt, gestochen werden musste», erklärt Brüllhardt.
Bald kam es zur revolutionären Erfindung: der Schreibmaschine für Braille-Schrift. Erfinder Frank Haven Hall liess sie im Jahr 1882, bereits ein gutes Jahrzehnt, nachdem die Schreibmaschine für Schwarzschrift erfunden worden war, patentieren. Und sie blieb mindestens ein Jahrhindert lang das wohl wichtigste technische Hilfsmittel, wenn es um Texte ging – bis sich in den 80er Jahren der Computer allmählich für das breite Publikum durchsetzte.
Die erste Schreibmaschine für Braille-Schrift. Frank Haven Hall liess sie bereits im Jahr 1882 patentieren. Foto zVg
Frühe PCs – Sehbehinderung als Vorteil auf dem Arbeitsmarkt
Mit den PCs begann ein neues Zeitalter technologischer Inklusion. Bereits die ersten Modelle waren auch blinden Menschen zugänglich: Dank der Braille-Zeile, die schon im Jahr 1978 patentiert worden war. Urs Hiltebrandt, Informatiker und Gründer der Stiftung AccessAbility, erinnert sich an eine ungewöhnliche Zeit: «Dank der ersten PCs hatten blinde Menschen einen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt. Sie konnten effizient mit PCs arbeiten, als die sehenden Mitarbeitenden noch längst an der Schreibmaschine sassen.»
Die ersten, hauptsächlich textbasierten PCs hatten auch bereits eine gute Sprachausgabe. «Die Probleme begannen, als Windows kam. Je grafischer die Technik wurde, desto mehr Barrieren gab es», so Hiltebrand. In dieser Zeit wurden unzählige Screenreader entwickelt, die Windows lesbar machen wollten; «die meisten haben nie gut funktioniert und gingen wieder ein. Leider ist der Markt oft zu klein, als dass solche Tools richtig optimiert werden.» Die Wende brachte das Smartphone: «Anfangs verwendeten fast alle Blinden weltweit iPhones. Das schaffte einen grossen Markt und machte Druck auf Apple. Endlich entstand so ein guter Screenreader.»
Mit dem Screenreader war endlich das grosse Problem der Smartphones gelöst, die zuvor wegen ihres Touchscreens für blinde und sehbehinderte Menschen kaum bedienbar gewesen waren. (Abhilfe leisteten und leisten bis heute übrigens auch montierbare Handytastaturen wie das Schweizer Produkt «Help2Type»). Heute ist das Smartphone selbst der wichtigste Assistent, um Hürden zu überwinden. Alle Expert:innen, mit denen wir für diesen Text gesprochen haben, sehen es in der Geschichte der technischen Hilfsmittel als einen der grössten «Game Changer» überhaupt.
Wird KI alles ändern?
Doch ein neuer «Game Changer» steht bereits in den Startlöchern: Die künstliche Intelligenz (KI). Schon jetzt, noch in den Kinderschuhen, leistet KI in Smartphone-Apps wie «Seeing AI» Beeindruckendes. Wenn sie sich weiterentwickelt und in andere bewährte Tools integriert wird, ist gemäss SBV-Digitalexperte Luciano Butera noch viel Grosses vorstellbar: «Man könnte KI in ‹Wearables› einbauen. In smarten Brillen könnte sie für sehbehinderte Menschen zum Beispiel Zoom- und Belichtungshilfen automatisieren. Und in fernerer Zukunft könnten auch selbstfahrende Autos attraktiv werden.»
Urs Hiltebrandt hofft besonders auf die KI schon als Hilfsmittel in komplexen Situationen: «Schon jetzt können blinde Menschen mithilfe von Navigationsapps eine Adresse finden. Aber vor der Haustür fangen die Probleme an.» Hier sei die Technik noch nicht so weit – «aber eigentlich könnte uns KI eigenständig über alles informieren, was gerade relevant ist: ‘In fünf Schritten kommt eine Treppe. Und Klingel ist übrigens links.’» Eine solche KI könnte z.B. auch im Restaurant sagen, welche vegetarischen Speisen es auf der Karte hat. Oder beim Einstieg in den Bus, wo Plätze frei sind und ob es etwas Besonderes zu beachten gibt; z.B. einen Hund, der im Weg liegt.
Wird sich die Wahrnehmung blinder Menschen dank solcher Innovationen sogar derjenigen von sehenden annähern? Hier sind die unsere Fachleute skeptischer. Das grösste Problem gemäss Hiltebrand: «Wer der KI zuhört, hört immer nur eine Sache gleichzeitig. Bilder bieten eine Unmenge an Informationen parallel.» Zudem birgt jede neue Technologie auch Gefahren, die nicht unterschätzt werden dürfen. Privatsphäre und persönliche Daten müssen gut geschützt werden; manche Wissenschaftler warnen sogar davor, dass die KI die Menschheit bedrohen könnte. Es gilt also, die Neuerungen nicht zu überstürzen und umsichtig weiterzuentwickeln. Immerhin tut sich auch in diesem Bereich allmählich etwas – wenn auch langsamer als bei den Innovationen selbst: Letztes Jahr hat die EU das weltweit erste KI-Gesetz in Kraft gesetzt.
…. und in ferner Zukunft?
Dennoch: die meisten hier erwähnten «Zukunftsvisionen» wären theoretisch sogar heute schon möglich. Was wird also erst in 20 oder 30 Jahren sein? Wie wird das Leben der eingangs beschriebenen Mathilda im Jahr 2050 aussehen? Um das zu beantworten, haben wir die vielleicht kompetenteste Expertin herangezogen: die KI «Chat GPT» selbst. So erträumt sie sich Mathildas Zukunft in 30 Jahren:
6 Uhr morgens. Mathilda wird sanft geweckt und fragt ihren KI-Assistenten nach dem Terminkalender. Er zählt die Aufgaben auf und macht sie darauf aufmerksam, dass das Wetter kälter geworden ist. Eine Hologrammvisualisierung unterstützt sie beim Ankleiden, die kognitive KI bestätigt die Auswahl. Beim Frühstück schlägt der intelligente Kochroboter vor, neue Vorräte zu bestellen. Während Mathilda ihren Kaffee genießt, spricht sie mit ihrem persönlichen KI-Assistenten über die neuesten Schlagzeilen. Die holographische Umgebungsvisualisierung zeigt ihr die Nachrichten, während die KI Hintergrundinformationen liefert.
Eine weitere Vorstellung der KI «Midjourney»: transparente Assistenten. Abbildung: codeplay.ch / generiert mit Midjourney
Eine kürzere Version dieses Texts ist bereits in unserem Verbandsmagazin «Augenblick» 1/2024 erschienen.