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Publiziert am: 05.10.2025

Gegenvorschlag Inklusions-Initiative: Prädikat ungenügend

Die Vernehmlassungsfrist für den indirekten Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative läuft am 16.10. ab. Der sbv ist enttäuscht vom Vorschlag des Bundesrates. Er bleibt unkonkret und liefert bei Weitem nicht den dringend geforderten Plan für eine inklusive Schweiz, stützt sich auf einen viel zu engen Behinderungsbegriff, und die Massnahmen im Bereich der IV sind schlicht ungenügend. Soll diese Vorlage eine geeignete Antwort auf die Inklusions-Initiative sein, braucht es eine grundlegende Korrektur.

Mehrere Personen versammeln sich in bunten Kleidern und Protestschildern auf dem Bundesplatz. Eine Frau hält einen symbolischen, grossen, goldigen Schlüssel in der Hand.

Bildquelle: sbv fsa

Der Bundesrat hat Ende Juni 2025 das Vernehmlassungsverfahren zum indirekten Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative eröffnet. Er besteht aus einem neuen Inklusionsrahmengesetz und einer Teilrevision des Gesetzes über die Invalidenversicherung (IVG). Der sbv hat sich gemeinsam mit anderen Behindertenorganisationen intensiv damit auseinandergesetzt.

Die Inklusions-Initiative soll dazu führen, dass sich die Schweiz entschlossen an die Umsetzung der tatsächlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen macht. Dazu hat sich die Schweiz mit der Unterzeichnung der UNO-Behindertenrechtskonvention 2014 verpflichtet. Sie ist daher auch für blinde und sehbehinderte Menschen mit der Hoffnung auf konkrete Verbesserungen ihrer Lebenssituation verbunden.

Woran messen wir also den Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative?

Im Bewusstsein, dass die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention nicht allein durch den Erlass eines Inklusionsgesetzes und einer Revision des IVG gewährleistet werden kann, haben wir die Messlatte zur Beurteilung der Vorlage wie folgt gesetzt:

  • Stellt sie die Weichen für eine umfassende, wenn auch schrittweise Umsetzung der BRK in den nächsten Jahrzehnten?
  • Trägt sie in ausgewählten Lebensbereichen tatsächlich zur Verwirklichung des selbstbestimmten Lebens von Menschen mit Behinderungen bei?

Prädikat ungenügend

Angesichts dieser Fragen ist der Vorentwurf enttäuschend und keineswegs eine Antwort auf die Anliegen der Inklusions-Initiative. Er stellt keine Weichen für eine fortschrittliche Behinderten- und Inklusionspolitik der nächsten Jahrzehnte. Besonders stossend ist, dass der Vorentwurf des Inklusionsgesetzes einen Behinderungsbegriff definiert, von dem drei Viertel der Menschen mit Behinderungen von vornherein ausgeschlossen sind.

Das Wesentliche in Kürze. Was wir im neuen Inklusionsgesetz vermissen:

  • Es fehlt die klare Verpflichtung, dass Bund und Kantone eine gemeinsame Strategie und einen Aktionsplan zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention vorlegen müssen.
  • Es wird im Vorentwurf nicht genügend dafür gesorgt, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände gebührend miteinbezogen werden.
  • Es fehlen Bestimmungen, die dafür sorgen, dass die Fortschritte der Schweiz bei der Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention laufend überprüft werden (Monitoring).
  • Die vorgeschlagenen Gesetzesbestimmungen zeigen, dass kein Gesamtkonzept vorhanden ist. Sie sind zu wenig präzis und erfassen lediglich den Wohnbereich.

Der Vorentwurf des Inklusionsgesetzes bleibt damit ambitionslos und ohne Gesamtkonzept. Die Verpflichtungen von Bund und Kantonen sowie die Rechtsansprüche der Menschen mit Behinderungen müssen klargestellt und organisatorische Vorkehren für die Umsetzung der tatsächlichen Gleichstellung getroffen werden.

Das Gesetz muss zumindest grundsätzlich alle 1,9 Millionen Menschen, die in der Schweiz mit einer Behinderung leben, erfassen. Allfällige Einschränkungen können in den Bestimmungen zu einzelnen Lebensbereichen (z. B. Wohnen) getroffen werden.

Verpasster Systemwechsel beim Wohnen

Selbstbestimmtes Wohnen ist ein entscheidender Faktor für die Inklusion und es besteht grosser Handlungsbedarf. Der Vorentwurf legt nach wie vor zu viel Gewicht auf das Wohnen in Institutionen. Eine koordinierte Strategie von Bund und Kantonen für den Übergang fehlt.

Im Vorentwurf fehlt ebenfalls der klare Auftrag an die Kantone, die freie Wahl der Wohnform und des Wohnorts zu gewährleisten. Menschen mit Behinderungen haben somit keinen Rechtsanspruch auf die freie Wahl der Wohnform und des Wohnorts.

Besserer Zugang zum Assistenzbeitrag nötig!

Im zweiten Teil des Gegenvorschlags werden im Rahmen des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG) nur sehr wenige Änderungen vorgeschlagen. Ein verbesserter Zugang zum Assistenzbeitrag, Hilfsmitteln und persönlichen Dienstleistungen sowie gar ein Ausbau der entsprechenden Leistungen in den Bereichen Wohnen, Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe bleiben weitgehend aus.

Dies ist jedoch Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen und ein Kernanliegen der Inklusions-Initiative. Der Assistenzbeitrag muss nachhaltig verbessert werden. Einerseits indem er auf weitere Personenkreise ausgeweitet wird und andererseits indem das System deutlich verbessert wird.

Unsere Forderungen betreffend Ausweitung:

  • Der Anspruch auf einen Assistenzbeitrag ist auf folgende Personenkreise auszuweiten:
  • Personen im AHV-Alter
  • Personen mit einer Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung und der Militärversicherung
  • Minderjährige, die nicht unter Art. 39a IVV fallen
  • Auch schwerhörigen und gehörlosen Erwachsenen ist ein Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung und damit auch ein grundsätzlicher Anspruch auf einen Assistenzbeitrag zu gewähren.
  • Personen mit einer psychischen Beeinträchtigung ist auch ohne IV-Rentenanspruch eine Hilflosenentschädigung für lebenspraktische Begleitung und damit auch ein grundsätzlicher Anspruch auf einen Assistenzbeitrag zu gewähren.

Unsere Forderungen betreffend Optimierung des Assistenzbeitrages:

  • Der administrative Aufwand ist zu verringern und angemessen abzugelten.
  • Der Assistenzbeitrag und die Höchstbeträge sind zu erhöhen.
  • Die Beratungsleistungen beim Assistenzbeitrag sind auszubauen.
  • Der Kreis der Assistenzleistenden ist auszuweiten:
  • keine Beschränkung auf natürliche Personen
  • Zulassung von Angehörigen in gerader Linie und von Lebenspartner:innen
  • Personen im zweiten Arbeitsmarkt sind beim Assistenzbeitrag gleich zu behandeln wie Personen im ersten Arbeitsmarkt.

Assistenzleistungen: Bedarf muss anders erhoben werden

Damit eine Person Assistenzleistungen zugesprochen erhält, muss sie ein Abklärungsverfahren durchlaufen. Das zurzeit angewandte Erhebungsinstrument FAKT stellt sich aber für blinde und sehbehinderte Personen als Stolperstein dar. Es ist sehr standardisiert und baut vorwiegend auf geschlossenen Fragestellungen auf. Dadurch können behinderungsspezifische Notwendigkeiten nicht berücksichtigt werden. Es berücksichtigt schwerpunktmässig die Bedürfnisse von Menschen mit körperlicher Behinderung.

Aus diesen Gründen fühlen sich gerade blinde uns sehbeeinträchtigte Personen im FAKT nicht abgebildet und erleben es als grundlegenden Fehler des Systems.

Das FAKT baut auf dem Abklärungsverfahren der Hilflosenentschädigung auf. Dass sich dieses Bedarfsabklärungsinstrument für Sinnesbehinderte nicht eignet, hat der Gesetzgeber erkannt und spricht blinden, sehbehinderten, hör-/sehbehinderten und taubblinden Personen eine Hilflosenentschädigung im Sonderfall zu. Dabei wird auf eine Abklärung mittels eines vorgegebenen Instruments bewusst verzichtet. Dieser Sonderfall wird aber im Assistenzbeitrag IV nur teilweise berücksichtigt

Wir fordern daher:

  • Auf das Bedarfsabklärungsinstrument FAKT ist zu verzichten und es ist ein neues Abklärungsinstrument (z.B. individuelle Hilfeplan IHP) einzusetzen.
  • Für Personen mit einer Sinnesbehinderung ist ein Assistenzbeitrag im Sonderfall zu gewähren.

Hilfsmittel

Was im Vorentwurf gänzlich fehlt, ist ein verbesserter Zugang zu Hilfsmitteln für Menschen mit Behinderungen, die erst im AHV-Alter auf Hilfsmittel angewiesen sind. Auch fehlt eine Ausweitung der Dienstleistungen Dritter (anstelle eines Hilfsmittels) auf die Pflege gesellschaftlicher Kontakte sowie eine Erhöhung des Höchstbetrags für die Ausübung des Berufs.

Wer es genauer wissen will und einen Einblick in sämtliche Forderungen erhalten möchte, findet die ausführliche Vernehmlassungsantwort des sbv in den Downloads.