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Publiziert am: 18.12.2025

«Zum Glück bin ich frech»

Domenica Griesser ist begeisterte Besucherin des BBZ St. Gallen. Im Gespräch mit dem «Augenblick» erzählt sie aus ihrem bewegten Leben – in dem ihre Blindheit mehrfach zur Stärke im Berufsleben wurde.

Domenica Griesser lacht in die Kamera.

Domenica Griesser / Bildquelle: sbv fsa

Die wenigsten Menschen haben so viele Wege eingeschlagen und so vielseitige Fähigkeiten erlernt wie Domenica Griesser – obwohl sie seit ihrer Jugend vollständig blind ist. Wenn sie heute im BBZ St. Gallen aus ihrem Leben erzählt, sprüht sie vor Energie und Tatendrang und ist auch mit 65 Jahren offen für Neues. «Ich habe mir nach meiner Pension vorgenommen, jede einzelne Sache auszuprobieren, die man hier im BBZ machen kann», sagt sie lachend. Dass sie so selbstbewusst und tatkräftig mit ihrer Sehbehinderung lebt, war nicht immer selbstverständlich.

«Einen weissen Stock verwenden? Sicher nicht!»

Domenica wächst im Thurgau auf. Schon in ihrer Kindheit fällt auf, dass sie schlecht sieht; als in der Pubertät die Sehkraft weiter abnimmt, zieht die Familie nach Zollikofen, damit sie die Blindenschule besuchen kann. Nun wird das Anderssein spürbar. Wenn sie mit Freunden in die Stadt fährt, versucht sie, ihre Probleme zu verstecken: «Ich habe mich geschämt, wenn ich gegen etwas gestossen bin. Ich wollte nicht auffallen. Einen weissen Stock verwenden? Sicher nicht!»

Bis sie 18 ist, verschlechtert sich ihr Sehvermögen so, dass sie nur noch Hell- und Dunkelunterschiede erkennt. Die Ärzte sind ratlos. Erst heute weiss Domenica, dass die seltene Erkrankung «autoimmune Uveitis» dahintersteckt. Sie kann zu Gelenkproblemen und Blindheit führen; heilbar ist sie nicht. Als «extremer Bewegungsmensch» leidet sie in dieser Zeit sehr. «Plötzlich war ich ausgebremst. Auch meine Berufswünsche wurden auf den Kopf gestellt». Sie wollte immer Krankenschwester werden. Stattdessen macht sie nun die Ausbildung zur Telefonistin.

Den Stress «abgsecklet»

Domenicas Wesen hilft ihr in dieser schwierigen Zeit. «Ich suche eigentlich immer das Positive, schaue vorwärts». So merkt sie bald, dass der geliebte Sport weiterhin möglich ist – nur etwas anders. «Allein auf der Hartan-Bahn ging es», erinnert sie sich. «Ich konnte mich spüren, habe ich den ganzen Stress ‘abgsecklet’.»

Kaum hat sich Domenica aus ihrem Tief gekämpft, merkt sie: Weder die Stelle als Telefonistin noch ihre Bürolehre erfüllen sie. Sie wird Masseurin, liebt die Arbeit – doch wegen ihrer Gelenkprobleme muss sie erneut umdenken, fast ohne Unterstützung. «Es gab noch kein Jobcoaching des sbv, keine passende Beratungsstelle.» Ihr Wunsch, Sozialarbeiterin zu werden, stösst bei der IV auf wenig Gegenliebe. Aber sie bleibt hartnäckig: «Zum Glück bin ich frech!» Sie ruft kurzerhand selbst bei der Schule für Soziale Arbeit an – und wird aufgenommen.

Domenica im BBZ St. Gallen beim Weben.

Domenica Griesser im BBZ St. Gallen. / Bildquelle: sbv fsa

Sehbehinderung als berufliche Schlüsselqualifikation

An der Schule für Soziale Arbeit gibt es damals keine Braille-Lehrmittel. Domenica besucht jede Vorlesung. Muss sie etwas nachlesen, helfen Mitstudierende, sie unterstützt sie im Gegenzug – und sie besteht die Ausbildung mit Bravour. Als sie nach vielen Bewerbungen endlich eine Stelle bekommt, zeigt sie schnell, was sie kann: «Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass meine Sehbehinderung eine Schlüsselqualifikation war.»

Sie arbeitet in einer Suchtklinik, später mit psychisch kranken und kognitiv beeinträchtigten Menschen und zuletzt acht Jahre in der Beratung für blinde und sehbehinderte Personen. «Besonders in der Suchtklinik lernte ich, meine Klient:innen sehr genau zu lesen. Es ging das Gerücht um, dass ich als einzige sofort merke, wenn jemand etwas genommen hat.» Sogar Ausflüge mit Patient:innen der geschlossenen Abteilung meistert sie allein. Sie bittet Alteingesessene, die Neuen zu beaufsichtigen – und wird respektiert. «Mir ist in der ganzen Zeit nie jemand abgehauen. Anders als manchen Kolleg:innen», sagt sie lächelnd.

Auch auf die Beratung blinder und sehbehinderter Menschen wirkt sich ihre Sehbehinderung aus. «Ich konnte Probleme direkter ansprechen. Zum Beispiel verstand ich aus erster Hand, wenn jemand keinen weissen Stock wollte. Man wird damit zur öffentlichen Person; das fällt vielen schwer.»

«Ich bin ganz»

Inzwischen hat sie selbst längst einen weissen Stock, seit vielen Jahren auch einen Führhund. Sie lebt allein in einer 2,5-Zimmer-Wohnung. «Ich mache alles selbst – ausser Fensterputzen.» Als Delegierte des sbv, früher Vorstandsmitglied und Präsidentin der Sektion Ostschweiz, setzt sie sich für Barrierefreiheit ein, damit andere es leichter haben. «Es hat sich schon viel verbessert. Auch dank dem sbv, der unermüdlich sensibilisiert.»

Heute sagt sie von Herzen: «Ich bin ganz. Es ist alles richtig, wie es ist». Ihre Sehbehinderung habe ihr auch viel Gutes ermöglicht: «Ich hätte nie gelernt, Menschen so zu lesen, wie ich es heute kann. Und ich hätte vermutlich nie ein Haustier gehabt. Heute kann ich mir ein Leben ohne meine Hündin gar nicht mehr vorstellen – und bin sehr dankbar.»

Dieser Text ist bereits in unserem Verbandsmagazin «Augenblick» 4/2025 erschienen.

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